Hagard

Roman

Ein Mann, eben stand er während des Feierabendgedrängels noch am Eingang eines Warenhauses, folgt aus einer Laune heraus einer Frau. Er kennt sie nicht, sieht sie auch nur von hinten, aber wie in einem Spiel sagt er sich: Geht sie dort entlang, folge ich ihr nicht weiter; geht sie in die andere Richtung, spiele ich das Spiel noch eine kleine Weile weiter. 

Es bedeutet ja nichts, niemand kommt zu Schaden, und der Abstand in der Menge ist so groß, dass die Frau es gar nicht bemerken wird. Eher ist es eine sportliche Aufgabe, sie in der Menge nicht zu verlieren. In einer knappen Stunde hat Philip ohnehin einen wichtigen Termin. Aber schon fragt er sich, ob der nicht auch zu verschieben wäre, bis zur Abendverabredung bliebe ja noch etwas Zeit. Was ihn bewegt, ist erst einmal unklar. Ist der Verfolger einfach ein gelangweilter Schnösel? Ein Verrückter? Ein Verbrecher? Er scheint selbst vor etwas zu fliehen. 

Etwas Bedrohliches liegt in der Luft, etwas Getriebenes. Ein atemloser Sog entsteht, in den auch der Leser gerät, je länger die Verfolgung anhält. Allen Sinneswahrnehmungen haftet etwas beunruhigend Surreales an. Die aufgerufenen Fragen über unsere Lebenswirklichkeit im 21. Jahrhundert gewinnen eine unabweisbare Schärfe.

Lukas Bärfuss: Hagard. Wallstein Verlag, 2017

20. November 2017

Lukas Bärfuss

Geboren 1971 in Thun. Schweizer Schriftsteller, Dramatiker und Dramaturg. Er arbeitete als Tabakbauer, Eisenleger und Gärtner, bevor er durch die Mitarbeit in einer Buchhandlung zur Schriftstellerei fand. Von 2009 bis 2013 war er Dramaturg am Schauspielhaus Zürich. Bärfuss’ erster Roman „Hundert Tage“ (2008) erregte Aufsehen, weil er sich mit dem Völkermord in Ruanda befasst und die Entwicklungsarbeit der Schweiz kritisch hinterfragt. Für seinen zweiten Roman „Koala“ wurde er 2014 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Er verknüpft darin die Geschichte des Selbstmords seines Bruders mit der Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte Australiens.

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